Sturm oder Beben?

|

Die revidierte Einheitsübersetzung hat die Glättung bildhafter Ausdrücke, die in der bisherigen Übersetzung vorgenommen worden war, wieder zurückgenommen. Ein herausragendes Beispiel ist die bildhafte Benennung der Nähe Gottes durch das Motiv des Erdbebens bei Matthäus, wie die ganze Antike es kannte. Statt dass beim Einzug Jesu in Jerusalem „die ganze Stadt in Aufruhr geriet“, heißt es nun: „erbebte die ganze Stadt“ (Mt 21,10), und statt dass „die Wächter (vor dem Grab) vor Angst zu zittern begannen“, heißt es nun, dass sie „aus Furcht vor ihm (dem Engel) erbebten“ (28,4). So klingt bei diesen Stellen das griechische Wort für Erdbeben (ὁ σεισμὸς) genauso an wie in Mt 27,51 und 28,4 (die zugehörige Verbform lautet σείω). Somit wurde der vom Evangelisten gewollte Zusammenhang wiederhergestellt.

Der Katechet und vor allem auch der Homilet sollte solche Beobachtungen zum Anlass nehmen, zumindest bei den Evangelien vor der Auslegung wieder regelmäßig näher an den Urtext heranzugehen. Niemand muss dazu perfekt Griechisch beherrschen. Es gibt hervorragende Hilfsmittel, die sogar dann helfen, wenn man nicht viel mehr als das griechische Alphabet gelernt hat, z. B. die Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel. Dann kann er entdecken, dass in der Erzählung vom Sturm auf dem See (Mt 8,24) nicht von „einem gewaltigen Sturm“, sondern wiederum von einem „großen Erdbeben“ die Rede ist, das zu den gefährlichen Wogen geführt hat.

Albert J. Urban

Albert Urban ist Geschäftsführer des Deutschen Liturgischen Instituts in Trier und Herausgeber zahlreicher Nachschlagewerke.

Quelle: Gottesdienst. Zeitschrift der Liturgischen Institute Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, 2019, Heft 6, S. 77

Zurück zur Übersicht